Lösung des Problems: Die Technik ist vorhanden
Das „Müssen müssen“ können wir nicht abstellen. Dennoch ist die Lösung für die fehl- oder nicht genutzten Abwässer zumindest von technischer Seite her vergleichsweise simpel: die Trockentoilette. In ihr werden die festen und flüssigen Bestandteile menschlicher Ausscheidungen voneinander getrennt. Das macht die sachgemäße, schadlose und sichere Weiterverarbeitung von menschlichen Exkrementen zu wertvollem Humusdünger möglich.
Und das Beste: Seit einigen Jahren arbeiten in Deutschland bereits einige Startups an funktionierenden technischen Innovationen rund um das Thema Sanitärwende. Die Technik ist bereits da. Doch ihre breite Implementierung scheitert noch an den Rahmenbedingungen.
Denn bei einer so tiefgreifenden Veränderung wie der Sanitärwende spielt der infrastrukturelle Aspekt eine wichtige Rolle. Neben dem Einbau von Trockentoiletten in der Breite gehört zu jeder Trockentoilette ein regionales System von Transport und Wiederaufbereitung, was derzeit noch nicht existiert. Auch aus gesetzlicher Sicht ist es noch nicht so einfach, diese innovativen Systeme einzuführen – denn Dünger aus menschlichen Ausscheidungen sind bisher noch nicht zugelassen.
Aber vor allem braucht das neue System die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die eigenen Routinen und Gewohnheiten zu ändern kostet Mühe, Kraft und Nerven – egal, ob man öfter Sport machen, mehr Lesen oder weniger Fastfood zu sich zu nehmen will. Bei einem geradezu intimen Vorgang wie der Toilettenhygiene ist das nicht anders. Die Kosten für den Umbau, hygienische Aspekte und die etwas vom herkömmlichen Prozedere abweichende Anwendung dürften gewisse Hürden für die Akzeptanz der Toiletten darstellen. Doch nur wenn genug Menschen bereit sind, Trockentoiletten zu nutzen, kann auch die lokale Infrastruktur um sie herum aufgebaut werden.
Eine soziale Innovation ist für die Wende nötig
Hier kommen Soziale Innovationen ins Spiel. Soziale Innovationen definieren wir als eine Veränderung des Verhaltens einer großen Anzahl an Menschen, sodass die Systeme, in denen sie leben, sich zukunftsfähiger und nachhaltiger ausrichten. Während es sich also bei der Trockentoilette um eine an sich technische Innovation handelt, ist der Prozess der Einführung eine soziale.
Die ersten Tests neuer Sanitärsysteme – und wie diese für die Nutzer:innen auf akzeptable Weise angeboten und verbreitet werden – gibt es bereits. Einige Beispiele werden auf der Webseite der Sanitärwende-Bewegung genauer beschreiben. Mit dem Projekt „zirkulierbar“ haben wir in Deutschland auch ein großangelegtes Forschungsprojekt. In Eberswalde, gleich vor den Toren von Berlin, wird neben der technischen Umsetzbarkeit auch die soziale Akzeptanz geprüft.
Das Beispiel zeigt: Ja, wir brauchen technische Innovationen. Aber vor allem brauchen wir Neuerungen im Handeln der Menschen. Welche Sanitäranlagen wir einbauen, wie wir unser Geschäft verrichten und wie Politiker:innen die Gesellschaft auf den Wandel vorbereiten, entscheidet über den Erfolg der Sanitärwende.
Der kleine Ausflug in die Welt des stillen Örtchens ist nur ein kleines Beispiel für die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wie Menschen konsumieren, arbeiten, wählen, sich engagieren, Lehre gestalten, ihre Freizeit gestalten, … alle sozialen Praktiken haben eine Auswirkung auf Umfeld und Umwelt. Es ist diese Akkumulation an Handlungen, die unsere Gesellschaft tagtäglich von neuem entstehen lässt.
Soziale Innovationen ermöglichen zukunftsfähige Gesellschaften
Mit Sozialen Innovationen haben wir nun eine Möglichkeit, diesen Aspekt genauer betrachten zu können. Sie fokussieren sich auf Neuerungen in den sozialen Praktiken von vielen Menschen, um nachhaltigere und zukunftsfähigere Gesellschaften zu ermöglichen. Technik und technische Innovationen nehmen durch die Perspektive der Sozialen Innovationen ein geringeres Gewicht ein. Denn erst unser Umgang mit Technik – dass wir sie in unser Handeln einbeziehen – entfaltet ihre Wirkung. Ansonsten bestünde sie nur aus Gadgets, die in der Ecke rumliegen. Technik wird hier nur zu einem Mittel zum Zweck.
Stattdessen geraten diejenigen Akteure in den Vordergrund, die Soziale Innovationen entwickeln. Das sind Vereine wie das Netzwerk für nachhaltige Sanitärsysteme e.V. von oben, Verbände, Sozialunternehmen oder auch „nur“ Privatpersonen oder lose Netzwerke.
Nach einem langen Hiatus, in dem nur technische Innovationen im Mittelpunkt der Fortschrittsanstrengungen Deutschlands lagen, kommen Soziale Innovationen nun wieder auf das Tableau.
Die nationale Strategie: mutiger Vorstoß mit blinden Flecken
Die nationale Strategie ist ein mutiger Vorstoß. Insbesondere im Hinblick darauf, dass er von allen Ministerien mitgetragen wird. Die Bundesregierung markiert ihren bis dato blinden Fleck, aufgrund dessen sie Soziale Innovationen mehr als stiefmütterlich behandelt hat. Die Strategie ist insofern ein Startschuss für ein sozialinnovatives Deutschland.
Beim Lesen der nationalen Strategie fällt jedoch auf, dass die Bundesregierung die Tragweite Sozialer Innovationen noch nicht vollständig erfasst hat. Zu oft verfällt sie in das eingefahrene Denken, bei dem Startups und Vermarktbarkeit die wichtigsten Gestaltungsfaktoren zu sein scheinen.
Doch erfolgreiche Soziale Innovationen sind meist mehr und größer als ein singuläres Gründungsunternehmen. Sie entstehen in der Forschung, in der Zivilgesellschaft, in der Verwaltung und vor allem: Im Austausch loser Netzwerke und in den Köpfen individueller Sozialinnovator:innen. Nur mit dieser gemeinsamen Schlagkraft können komplexe Vorhaben wie die Sanitärwende erfolgreich umgesetzt werden.
Die Strategie nennt im Titel als erstes „Soziale Innovationen“, doch dafür schwingt das Thema Unternehmertum noch zu stark mit. Zu den ersten Maßnahmen im Dokument werden Finanzmärkte und KMU-Förderprogramme genannt. Doch nicht alle Soziale Innovationen sind Unternehmen – im alten Sinne des Wortes.
Hier haben wir uns mehr erhofft: Dass Soziale Innovationen als das gesehen werden, was sie sind. Vielfältig, komplex, emergent, nicht notwendigerweise profitorientiert.
Trotz aller Kritik an der Strategie freuen wir uns auf die nächsten Jahre, in denen Sozialen Innovationen ein größeres und das ihnen gebührende Gewicht zukommt. Wir sind sicher, dass wir in der kommenden Zeit einen wahren Boom an sozialinnovativen Initiativen, Projekten und ja, auch gemeinwohlorientierten Unternehmen sehen werden. Auch die Arbeit der Forschung durch Erarbeitung von Wissen und Methodik wird zu einer erfolgreichen Etablierung von Sozialen Innovationen beitragen. Es bleibt spannend in Deutschland!