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Sozia­le Inno­va­tio­nen wer­den Deutsch­land ver­än­dern

Im Sep­tem­ber 2023 hat die Bun­des­re­gie­rung die Natio­na­le Stra­te­gie für Sozia­le Inno­va­tio­nen und Gemein­wohl­ori­en­tier­te Unter­neh­men ver­öf­fent­licht. Die­se mar­kiert ein dras­ti­sches Umden­ken hin­sicht­lich der Per­spek­ti­ve, die Deutsch­land auf Fort­schritt, Inno­va­ti­on und gesell­schaft­li­che Teil­ha­be ein­nimmt.

 

In elf Hand­lungs­fel­dern möch­te sie die Ver­än­de­rungs­kraft Sozia­ler Inno­va­tio­nen för­dern. Es geht ihr dabei unter ande­rem um die Stär­kung der sozi­alin­no­va­ti­ven Grün­dungs­kul­tur, um die Aus­ge­stal­tung von För­der­instru­men­ten für Sozialinnovator:innen und eine ver­stärk­te For­schung rund um Sozia­le Inno­va­tio­nen. Wie kam es dazu und was bezweckt die Bun­des­re­gie­rung damit?

 

Der Glau­be an Fort­schritt durch Tech­nik

 

Deutsch­land war schon immer ein wich­ti­ger Ort für Sozia­le Inno­va­tio­nen: Kran­ken- und Ren­ten­kas­sen, Genos­sen­schaf­ten und die Wohl­fahrt­pfle­ge sind alles Sozi­al Inno­va­tio­nen “Made in Ger­ma­ny“. Trotz der gro­ßen Ver­än­de­run­gen, die die­se Art von Inno­va­tio­nen mit sich brach­ten, war es aller­dings der Glau­be an Fort­schritt durch Tech­nik, der zu einer der wich­tigs­ten Trieb­kräf­te des letz­ten Jahr­hun­derts wur­de.

Und das aus gutem Grund: Tech­ni­sche Inno­va­tio­nen brach­ten der Gesell­schaft grö­ße­ren Wohl­stand und den Men­schen eine höhe­re Lebens­er­war­tung. Imp­fun­gen, moto­ri­sier­te Fort­be­we­gung, künst­li­che Dün­ge­mit­tel, Pes­ti­zi­de und vie­le wei­te­re Errun­gen­schaf­ten ermög­lich­ten einen bis dato nicht gekann­ten Lebens­stan­dard.

 

Doch nicht alles, was glänzt, ist Gold. Denn die­sel­ben tech­ni­schen Erfin­dun­gen, die so viel Posi­ti­ves bewirkt haben, unter­mi­nie­ren gleich­zei­tig die Grund­la­ge, auf dem die­ser Wohl­stand auf­ge­baut ist. In unse­rem im August im oekom-Ver­lag erschie­ne­nen Buch „Sozia­le Inno­va­tio­nen – Lösun­gen, wie wir sie wirk­lich brau­chen“ beleuch­ten wir eini­ge die­ser zwie­späl­ti­gen Ent­wick­lun­gen genau­er.

Men­schen­ge­mach­te Her­aus­for­de­run­gen

 

Land­wirt­schaft­li­che aus­ge­laug­te Böden gefähr­den die Sicher­stel­lung aus­rei­chen­der Ernäh­rung; Wohl­stands­un­gleich­heit bringt die Gesell­schaft in Schief­la­ge; die Kli­ma­kri­se zeigt kon­kret ihre bedroh­li­chen Fol­gen; immer knap­per wer­den­de Res­sour­cen gefähr­den den tech­ni­schen Fort­schritt und das Bil­dungs­sys­tem berei­tet die jün­ge­re Gene­ra­ti­on nicht aus­rei­chend auf die vor ihr lie­gen­den Kri­sen und Kon­flik­te vor.

 

Die­se Her­aus­for­de­run­gen sind größ­ten­teils men­schen­ge­macht. Vie­le ste­hen in direk­tem Zusam­men­hang mit der Tech­nik, die wir tag­täg­lich nut­zen. Doch ent­schei­dend für die Aus­wir­kun­gen ist das mensch­li­che Han­deln: Erst unser aller Ver­hal­ten ent­schei­det über die Aus­wir­kun­gen von Tech­nik und den tat­säch­li­chen Ein­fluss gesell­schaft­li­cher Insti­tu­tio­nen.

 

Um Lösun­gen für Pro­ble­me wie oben genann­te zu fin­den, muss das Ver­hal­ten von Men­schen in den Blick genom­men wer­den, von Indi­vi­du­en wie von Grup­pen. Es gilt, sich anzu­schau­en, wie Ver­hal­tens­än­de­run­gen zustan­de kom­men und wie die Nut­zung von Tech­nik bzw. die Ver­brei­tung von Tech­nik beein­flusst wer­den kann.

 

Um das Gan­ze kon­kre­ter dar­zu­stel­len, tau­chen wir in ein eben­so nahe­lie­gen­des wie über­ra­schen­des Bei­spiel ein: Spül­toi­let­ten.

 

Ein Bei­spiel

 

Kaum jemand macht sich bei sei­nen täg­li­chen Gän­gen zum stil­len Ört­chen Gedan­ken dar­über, welch hohe sozia­le wie öko­lo­gi­sche Kos­ten die­ses in sich trägt. Denn was mit dem Spül­was­ser weg­ge­schwemmt wird, ent­hält vie­le wert­vol­le Res­sour­cen; u.a. auch Stick­stoff und Phos­phat, zwei der drei wich­tigs­ten Grund­stof­fe für Dün­ge­mit­tel.

 

„Mensch­li­che Fäka­li­en ent­hal­ten Nähr­stof­fe, die – kor­rekt auf­be­rei­tet und qua­li­täts­ge­si­chert – als Recy­cling­dün­ger das Pflan­zen­wachs­tum för­dern und in Deutsch­land bis zu 25 % der kon­ven­tio­nel­len syn­the­tisch-mine­ra­li­schen Dün­ger erset­zen kön­nen.“, schreibt das Netz­werk für nach­hal­ti­ge Sani­tär­sys­te­me e.V., ein Ver­ein, der sich für die Sani­tär- und Nähr­stoff­wen­de ein­setzt. Bis­her ist Deutsch­land in Bezug auf Phos­phor noch stark abhän­gig von Export­län­dern – eine Abhän­gig­keit, die im Ernst­fall unse­re Ernäh­rungs­si­cher­heit bedroht.

 

Nicht zu schwei­gen von den schie­ren Unmen­gen an Was­ser, die die Toi­let­te bei jedem Spül­gang her­un­ter­flie­ßen. „Mit dem Gang zur Toi­let­te ver­braucht ganz Deutsch­land somit jedes Jahr ins­ge­samt über 1 Mil­li­ar­de Kubik­me­ter Frisch­was­ser. Das ist mehr als das Volu­men der Müritz, dem größ­ten Bin­nen­see Deutsch­lands“, klärt das Netz­werk wei­ter auf. Auf dem Ber­tels­mann Blog trans­forming eco­no­mies schrei­ben die Initiator:innen des Netz­werks, dass in Deutsch­land „täg­lich etwa ein Drit­tel unse­res kost­ba­ren Trink­was­ser­be­darfs für die Toi­let­ten­spü­lung“ ver­schwen­det wird.

Dabei bleibt es jedoch nicht. Denn obwohl Toi­let­ten­ab­wäs­ser heu­te schon auf­wen­dig gerei­nigt wer­den, fin­den sich wei­ter­hin Rück­stän­de von Krank­heits­er­re­gern, Arz­nei­mit­teln und Hor­mo­nen in ihnen. Befin­den sich noch orga­ni­sche Stof­fe im geklär­ten Abwas­ser, kön­nen die­se zudem in Ober­flä­chen­ge­wäs­sern zur über­mä­ßi­gen Nähr­stoff­an­rei­che­rung bei­tra­gen und die Öko­sys­te­me gefähr­den.

Lösung des Pro­blems: Die Tech­nik ist vor­han­den

 

Das „Müs­sen müs­sen“ kön­nen wir nicht abstel­len. Den­noch ist die Lösung für die fehl- oder nicht genutz­ten Abwäs­ser zumin­dest von tech­ni­scher Sei­te her ver­gleichs­wei­se sim­pel: die Tro­cken­toi­let­te. In ihr wer­den die fes­ten und flüs­si­gen Bestand­tei­le mensch­li­cher Aus­schei­dun­gen von­ein­an­der getrennt. Das macht die sach­ge­mä­ße, schad­lo­se und siche­re Wei­ter­ver­ar­bei­tung von mensch­li­chen Exkre­men­ten zu wert­vol­lem Humus­dün­ger mög­lich.

Und das Bes­te: Seit eini­gen Jah­ren arbei­ten in Deutsch­land bereits eini­ge Start­ups an funk­tio­nie­ren­den tech­ni­schen Inno­va­tio­nen rund um das The­ma Sani­tär­wen­de. Die Tech­nik ist bereits da. Doch ihre brei­te Imple­men­tie­rung schei­tert noch an den Rah­men­be­din­gun­gen.

 

Denn bei einer so tief­grei­fen­den Ver­än­de­rung wie der Sani­tär­wen­de spielt der infra­struk­tu­rel­le Aspekt eine wich­ti­ge Rol­le. Neben dem Ein­bau von Tro­cken­toi­let­ten in der Brei­te gehört zu jeder Tro­cken­toi­let­te ein regio­na­les Sys­tem von Trans­port und Wie­der­auf­be­rei­tung, was der­zeit noch nicht exis­tiert. Auch aus gesetz­li­cher Sicht ist es noch nicht so ein­fach, die­se inno­va­ti­ven Sys­te­me ein­zu­füh­ren – denn Dün­ger aus mensch­li­chen Aus­schei­dun­gen sind bis­her noch nicht zuge­las­sen.

 

Aber vor allem braucht das neue Sys­tem die Akzep­tanz in der Bevöl­ke­rung. Die eige­nen Rou­ti­nen und Gewohn­hei­ten zu ändern kos­tet Mühe, Kraft und Ner­ven – egal, ob man öfter Sport machen, mehr Lesen oder weni­ger Fast­food zu sich zu neh­men will. Bei einem gera­de­zu inti­men Vor­gang wie der Toi­let­ten­hy­gie­ne ist das nicht anders. Die Kos­ten für den Umbau, hygie­ni­sche Aspek­te und die etwas vom her­kömm­li­chen Pro­ze­de­re abwei­chen­de Anwen­dung dürf­ten gewis­se Hür­den für die Akzep­tanz der Toi­let­ten dar­stel­len. Doch nur wenn genug Men­schen bereit sind, Tro­cken­toi­let­ten zu nut­zen, kann auch die loka­le Infra­struk­tur um sie her­um auf­ge­baut wer­den.

 

Eine sozia­le Inno­va­ti­on ist für die Wen­de nötig

 

Hier kom­men Sozia­le Inno­va­tio­nen ins Spiel. Sozia­le Inno­va­tio­nen defi­nie­ren wir als eine Ver­än­de­rung des Ver­hal­tens einer gro­ßen Anzahl an Men­schen, sodass die Sys­te­me, in denen sie leben, sich zukunfts­fä­hi­ger und nach­hal­ti­ger aus­rich­ten. Wäh­rend es sich also bei der Tro­cken­toi­let­te um eine an sich tech­ni­sche Inno­va­ti­on han­delt, ist der Pro­zess der Ein­füh­rung eine sozia­le.

 

Die ers­ten Tests neu­er Sani­tär­sys­te­me – und wie die­se für die Nutzer:innen auf akzep­ta­ble Wei­se ange­bo­ten und ver­brei­tet wer­den – gibt es bereits. Eini­ge Bei­spie­le wer­den auf der Web­sei­te der Sani­tär­wen­de-Bewe­gung genau­er beschrei­ben. Mit dem Pro­jekt „zir­ku­lier­bar“ haben wir in Deutsch­land auch ein groß­an­ge­leg­tes For­schungs­pro­jekt. In Ebers­wal­de, gleich vor den Toren von Ber­lin, wird neben der tech­ni­schen Umsetz­bar­keit auch die sozia­le Akzep­tanz geprüft.

 

Das Bei­spiel zeigt: Ja, wir brau­chen tech­ni­sche Inno­va­tio­nen. Aber vor allem brau­chen wir Neue­run­gen im Han­deln der Men­schen. Wel­che Sani­tär­an­la­gen wir ein­bau­en, wie wir unser Geschäft ver­rich­ten und wie Politiker:innen die Gesell­schaft auf den Wan­del vor­be­rei­ten, ent­schei­det über den Erfolg der Sani­tär­wen­de.

 

Der klei­ne Aus­flug in die Welt des stil­len Ört­chens ist nur ein klei­nes Bei­spiel für die not­wen­di­gen Ver­än­de­run­gen in unse­rer Gesell­schaft. Wie Men­schen kon­su­mie­ren, arbei­ten, wäh­len, sich enga­gie­ren, Leh­re gestal­ten, ihre Frei­zeit gestal­ten, … alle sozia­len Prak­ti­ken haben eine Aus­wir­kung auf Umfeld und Umwelt. Es ist die­se Akku­mu­la­ti­on an Hand­lun­gen, die unse­re Gesell­schaft tag­täg­lich von neu­em ent­ste­hen lässt.

 

Sozia­le Inno­va­tio­nen ermög­li­chen zukunfts­fä­hi­ge Gesell­schaf­ten

 

Mit Sozia­len Inno­va­tio­nen haben wir nun eine Mög­lich­keit, die­sen Aspekt genau­er betrach­ten zu kön­nen. Sie fokus­sie­ren sich auf Neue­run­gen in den sozia­len Prak­ti­ken von vie­len Men­schen, um nach­hal­ti­ge­re und zukunfts­fä­hi­ge­re Gesell­schaf­ten zu ermög­li­chen. Tech­nik und tech­ni­sche Inno­va­tio­nen neh­men durch die Per­spek­ti­ve der Sozia­len Inno­va­tio­nen ein gerin­ge­res Gewicht ein. Denn erst unser Umgang mit Tech­nik – dass wir sie in unser Han­deln ein­be­zie­hen – ent­fal­tet ihre Wir­kung. Ansons­ten bestün­de sie nur aus Gad­gets, die in der Ecke rum­lie­gen. Tech­nik wird hier nur zu einem Mit­tel zum Zweck.

 

Statt­des­sen gera­ten die­je­ni­gen Akteu­re in den Vor­der­grund, die Sozia­le Inno­va­tio­nen ent­wi­ckeln. Das sind Ver­ei­ne wie das Netz­werk für nach­hal­ti­ge Sani­tär­sys­te­me e.V. von oben, Ver­bän­de, Sozi­al­un­ter­neh­men oder auch „nur“ Pri­vat­per­so­nen oder lose Netz­wer­ke.

Nach einem lan­gen Hia­tus, in dem nur tech­ni­sche Inno­va­tio­nen im Mit­tel­punkt der Fort­schritts­an­stren­gun­gen Deutsch­lands lagen, kom­men Sozia­le Inno­va­tio­nen nun wie­der auf das Tableau.

 

Die natio­na­le Stra­te­gie: muti­ger Vor­stoß mit blin­den Fle­cken

 

Die natio­na­le Stra­te­gie ist ein muti­ger Vor­stoß. Ins­be­son­de­re im Hin­blick dar­auf, dass er von allen Minis­te­ri­en mit­ge­tra­gen wird. Die Bun­des­re­gie­rung mar­kiert ihren bis dato blin­den Fleck, auf­grund des­sen sie Sozia­le Inno­va­tio­nen mehr als stief­müt­ter­lich behan­delt hat. Die Stra­te­gie ist inso­fern ein Start­schuss für ein sozi­alin­no­va­ti­ves Deutsch­land.

 

Beim Lesen der natio­na­len Stra­te­gie fällt jedoch auf, dass die Bun­des­re­gie­rung die Trag­wei­te Sozia­ler Inno­va­tio­nen noch nicht voll­stän­dig erfasst hat. Zu oft ver­fällt sie in das ein­ge­fah­re­ne Den­ken, bei dem Start­ups und Ver­markt­bar­keit die wich­tigs­ten Gestal­tungs­fak­to­ren zu sein schei­nen.

Doch erfolg­rei­che Sozia­le Inno­va­tio­nen sind meist mehr und grö­ßer als ein sin­gu­lä­res Grün­dungs­un­ter­neh­men. Sie ent­ste­hen in der For­schung, in der Zivil­ge­sell­schaft, in der Ver­wal­tung und vor allem: Im Aus­tausch loser Netz­wer­ke und in den Köp­fen indi­vi­du­el­ler Sozialinnovator:innen. Nur mit die­ser gemein­sa­men Schlag­kraft kön­nen kom­ple­xe Vor­ha­ben wie die Sani­tär­wen­de erfolg­reich umge­setzt wer­den.

 

Die Stra­te­gie nennt im Titel als ers­tes „Sozia­le Inno­va­tio­nen“, doch dafür schwingt das The­ma Unter­neh­mer­tum noch zu stark mit. Zu den ers­ten Maß­nah­men im Doku­ment wer­den Finanz­märk­te und KMU-För­der­pro­gram­me genannt. Doch nicht alle Sozia­le Inno­va­tio­nen sind Unter­neh­men – im alten Sin­ne des Wor­tes.

 

Hier haben wir uns mehr erhofft: Dass Sozia­le Inno­va­tio­nen als das gese­hen wer­den, was sie sind. Viel­fäl­tig, kom­plex, emer­gent, nicht not­wen­di­ger­wei­se pro­fit­ori­en­tiert.

 

Trotz aller Kri­tik an der Stra­te­gie freu­en wir uns auf die nächs­ten Jah­re, in denen Sozia­len Inno­va­tio­nen ein grö­ße­res und das ihnen gebüh­ren­de Gewicht zukommt. Wir sind sicher, dass wir in der kom­men­den Zeit einen wah­ren Boom an sozi­alin­no­va­ti­ven Initia­ti­ven, Pro­jek­ten und ja, auch gemein­wohl­ori­en­tier­ten Unter­neh­men sehen wer­den. Auch die Arbeit der For­schung durch Erar­bei­tung von Wis­sen und Metho­dik wird zu einer erfolg­rei­chen Eta­blie­rung von Sozia­len Inno­va­tio­nen bei­tra­gen. Es bleibt span­nend in Deutsch­land!

 

Im September 2023 hat die Bundesregierung die Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen veröffentlicht. Diese markiert ein drastisches Umdenken hinsichtlich der Perspektive, die Deutschland auf Fortschritt, Innovation und gesellschaftliche Teilhabe einnimmt.

 

In elf Handlungsfeldern möchte sie die Veränderungskraft Sozialer Innovationen fördern. Es geht ihr dabei unter anderem um die Stärkung der sozialinnovativen Gründungskultur, um die Ausgestaltung von Förderinstrumenten für Sozialinnovator:innen und eine verstärkte Forschung rund um Soziale Innovationen. Wie kam es dazu und was bezweckt die Bundesregierung damit?

 

Der Glaube an Fortschritt durch Technik

 

Deutschland war schon immer ein wichtiger Ort für Soziale Innovationen: Kranken- und Rentenkassen, Genossenschaften und die Wohlfahrtpflege sind alles Sozial Innovationen “Made in Germany“. Trotz der großen Veränderungen, die diese Art von Innovationen mit sich brachten, war es allerdings der Glaube an Fortschritt durch Technik, der zu einer der wichtigsten Triebkräfte des letzten Jahrhunderts wurde.

Und das aus gutem Grund: Technische Innovationen brachten der Gesellschaft größeren Wohlstand und den Menschen eine höhere Lebenserwartung. Impfungen, motorisierte Fortbewegung, künstliche Düngemittel, Pestizide und viele weitere Errungenschaften ermöglichten einen bis dato nicht gekannten Lebensstandard.

 

Doch nicht alles, was glänzt, ist Gold. Denn dieselben technischen Erfindungen, die so viel Positives bewirkt haben, unterminieren gleichzeitig die Grundlage, auf dem dieser Wohlstand aufgebaut ist. In unserem im August im oekom-Verlag erschienenen Buch „Soziale Innovationen – Lösungen, wie wir sie wirklich brauchen“ beleuchten wir einige dieser zwiespältigen Entwicklungen genauer.

Menschengemachte Herausforderungen

 

Landwirtschaftliche ausgelaugte Böden gefährden die Sicherstellung ausreichender Ernährung; Wohlstandsungleichheit bringt die Gesellschaft in Schieflage; die Klimakrise zeigt konkret ihre bedrohlichen Folgen; immer knapper werdende Ressourcen gefährden den technischen Fortschritt und das Bildungssystem bereitet die jüngere Generation nicht ausreichend auf die vor ihr liegenden Krisen und Konflikte vor.

 

Diese Herausforderungen sind größtenteils menschengemacht. Viele stehen in direktem Zusammenhang mit der Technik, die wir tagtäglich nutzen. Doch entscheidend für die Auswirkungen ist das menschliche Handeln: Erst unser aller Verhalten entscheidet über die Auswirkungen von Technik und den tatsächlichen Einfluss gesellschaftlicher Institutionen.

 

Um Lösungen für Probleme wie oben genannte zu finden, muss das Verhalten von Menschen in den Blick genommen werden, von Individuen wie von Gruppen. Es gilt, sich anzuschauen, wie Verhaltensänderungen zustande kommen und wie die Nutzung von Technik bzw. die Verbreitung von Technik beeinflusst werden kann.

 

Um das Ganze konkreter darzustellen, tauchen wir in ein ebenso naheliegendes wie überraschendes Beispiel ein: Spültoiletten.

 

Ein Beispiel

 

Kaum jemand macht sich bei seinen täglichen Gängen zum stillen Örtchen Gedanken darüber, welch hohe soziale wie ökologische Kosten dieses in sich trägt. Denn was mit dem Spülwasser weggeschwemmt wird, enthält viele wertvolle Ressourcen; u.a. auch Stickstoff und Phosphat, zwei der drei wichtigsten Grundstoffe für Düngemittel.

 

„Menschliche Fäkalien enthalten Nährstoffe, die – korrekt aufbereitet und qualitätsgesichert – als Recyclingdünger das Pflanzenwachstum fördern und in Deutschland bis zu 25 % der konventionellen synthetisch-mineralischen Dünger ersetzen können.“, schreibt das Netzwerk für nachhaltige Sanitärsysteme e.V., ein Verein, der sich für die Sanitär- und Nährstoffwende einsetzt. Bisher ist Deutschland in Bezug auf Phosphor noch stark abhängig von Exportländern – eine Abhängigkeit, die im Ernstfall unsere Ernährungssicherheit bedroht.

 

Nicht zu schweigen von den schieren Unmengen an Wasser, die die Toilette bei jedem Spülgang herunterfließen. „Mit dem Gang zur Toilette verbraucht ganz Deutschland somit jedes Jahr insgesamt über 1 Milliarde Kubikmeter Frischwasser. Das ist mehr als das Volumen der Müritz, dem größten Binnensee Deutschlands“, klärt das Netzwerk weiter auf. Auf dem Bertelsmann Blog transforming economies schreiben die Initiator:innen des Netzwerks, dass in Deutschland „täglich etwa ein Drittel unseres kostbaren Trinkwasserbedarfs für die Toilettenspülung“ verschwendet wird.

Dabei bleibt es jedoch nicht. Denn obwohl Toilettenabwässer heute schon aufwendig gereinigt werden, finden sich weiterhin Rückstände von Krankheitserregern, Arzneimitteln und Hormonen in ihnen. Befinden sich noch organische Stoffe im geklärten Abwasser, können diese zudem in Oberflächengewässern zur übermäßigen Nährstoffanreicherung beitragen und die Ökosysteme gefährden.

Lösung des Problems: Die Technik ist vorhanden

 

Das „Müssen müssen“ können wir nicht abstellen. Dennoch ist die Lösung für die fehl- oder nicht genutzten Abwässer zumindest von technischer Seite her vergleichsweise simpel: die Trockentoilette. In ihr werden die festen und flüssigen Bestandteile menschlicher Ausscheidungen voneinander getrennt. Das macht die sachgemäße, schadlose und sichere Weiterverarbeitung von menschlichen Exkrementen zu wertvollem Humusdünger möglich.

Und das Beste: Seit einigen Jahren arbeiten in Deutschland bereits einige Startups an funktionierenden technischen Innovationen rund um das Thema Sanitärwende. Die Technik ist bereits da. Doch ihre breite Implementierung scheitert noch an den Rahmenbedingungen.

 

Denn bei einer so tiefgreifenden Veränderung wie der Sanitärwende spielt der infrastrukturelle Aspekt eine wichtige Rolle. Neben dem Einbau von Trockentoiletten in der Breite gehört zu jeder Trockentoilette ein regionales System von Transport und Wiederaufbereitung, was derzeit noch nicht existiert. Auch aus gesetzlicher Sicht ist es noch nicht so einfach, diese innovativen Systeme einzuführen – denn Dünger aus menschlichen Ausscheidungen sind bisher noch nicht zugelassen.

 

Aber vor allem braucht das neue System die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die eigenen Routinen und Gewohnheiten zu ändern kostet Mühe, Kraft und Nerven – egal, ob man öfter Sport machen, mehr Lesen oder weniger Fastfood zu sich zu nehmen will. Bei einem geradezu intimen Vorgang wie der Toilettenhygiene ist das nicht anders. Die Kosten für den Umbau, hygienische Aspekte und die etwas vom herkömmlichen Prozedere abweichende Anwendung dürften gewisse Hürden für die Akzeptanz der Toiletten darstellen. Doch nur wenn genug Menschen bereit sind, Trockentoiletten zu nutzen, kann auch die lokale Infrastruktur um sie herum aufgebaut werden.

 

Eine soziale Innovation ist für die Wende nötig

 

Hier kommen Soziale Innovationen ins Spiel. Soziale Innovationen definieren wir als eine Veränderung des Verhaltens einer großen Anzahl an Menschen, sodass die Systeme, in denen sie leben, sich zukunftsfähiger und nachhaltiger ausrichten. Während es sich also bei der Trockentoilette um eine an sich technische Innovation handelt, ist der Prozess der Einführung eine soziale.

 

Die ersten Tests neuer Sanitärsysteme – und wie diese für die Nutzer:innen auf akzeptable Weise angeboten und verbreitet werden – gibt es bereits. Einige Beispiele werden auf der Webseite der Sanitärwende-Bewegung genauer beschreiben. Mit dem Projekt „zirkulierbar“ haben wir in Deutschland auch ein großangelegtes Forschungsprojekt. In Eberswalde, gleich vor den Toren von Berlin, wird neben der technischen Umsetzbarkeit auch die soziale Akzeptanz geprüft.

 

Das Beispiel zeigt: Ja, wir brauchen technische Innovationen. Aber vor allem brauchen wir Neuerungen im Handeln der Menschen. Welche Sanitäranlagen wir einbauen, wie wir unser Geschäft verrichten und wie Politiker:innen die Gesellschaft auf den Wandel vorbereiten, entscheidet über den Erfolg der Sanitärwende.

 

Der kleine Ausflug in die Welt des stillen Örtchens ist nur ein kleines Beispiel für die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wie Menschen konsumieren, arbeiten, wählen, sich engagieren, Lehre gestalten, ihre Freizeit gestalten, … alle sozialen Praktiken haben eine Auswirkung auf Umfeld und Umwelt. Es ist diese Akkumulation an Handlungen, die unsere Gesellschaft tagtäglich von neuem entstehen lässt.

 

Soziale Innovationen ermöglichen zukunftsfähige Gesellschaften

 

Mit Sozialen Innovationen haben wir nun eine Möglichkeit, diesen Aspekt genauer betrachten zu können. Sie fokussieren sich auf Neuerungen in den sozialen Praktiken von vielen Menschen, um nachhaltigere und zukunftsfähigere Gesellschaften zu ermöglichen. Technik und technische Innovationen nehmen durch die Perspektive der Sozialen Innovationen ein geringeres Gewicht ein. Denn erst unser Umgang mit Technik – dass wir sie in unser Handeln einbeziehen – entfaltet ihre Wirkung. Ansonsten bestünde sie nur aus Gadgets, die in der Ecke rumliegen. Technik wird hier nur zu einem Mittel zum Zweck.

 

Stattdessen geraten diejenigen Akteure in den Vordergrund, die Soziale Innovationen entwickeln. Das sind Vereine wie das Netzwerk für nachhaltige Sanitärsysteme e.V. von oben, Verbände, Sozialunternehmen oder auch „nur“ Privatpersonen oder lose Netzwerke.

Nach einem langen Hiatus, in dem nur technische Innovationen im Mittelpunkt der Fortschrittsanstrengungen Deutschlands lagen, kommen Soziale Innovationen nun wieder auf das Tableau.

 

Die nationale Strategie: mutiger Vorstoß mit blinden Flecken

 

Die nationale Strategie ist ein mutiger Vorstoß. Insbesondere im Hinblick darauf, dass er von allen Ministerien mitgetragen wird. Die Bundesregierung markiert ihren bis dato blinden Fleck, aufgrund dessen sie Soziale Innovationen mehr als stiefmütterlich behandelt hat. Die Strategie ist insofern ein Startschuss für ein sozialinnovatives Deutschland.

 

Beim Lesen der nationalen Strategie fällt jedoch auf, dass die Bundesregierung die Tragweite Sozialer Innovationen noch nicht vollständig erfasst hat. Zu oft verfällt sie in das eingefahrene Denken, bei dem Startups und Vermarktbarkeit die wichtigsten Gestaltungsfaktoren zu sein scheinen.

Doch erfolgreiche Soziale Innovationen sind meist mehr und größer als ein singuläres Gründungsunternehmen. Sie entstehen in der Forschung, in der Zivilgesellschaft, in der Verwaltung und vor allem: Im Austausch loser Netzwerke und in den Köpfen individueller Sozialinnovator:innen. Nur mit dieser gemeinsamen Schlagkraft können komplexe Vorhaben wie die Sanitärwende erfolgreich umgesetzt werden.

 

Die Strategie nennt im Titel als erstes „Soziale Innovationen“, doch dafür schwingt das Thema Unternehmertum noch zu stark mit. Zu den ersten Maßnahmen im Dokument werden Finanzmärkte und KMU-Förderprogramme genannt. Doch nicht alle Soziale Innovationen sind Unternehmen – im alten Sinne des Wortes.

 

Hier haben wir uns mehr erhofft: Dass Soziale Innovationen als das gesehen werden, was sie sind. Vielfältig, komplex, emergent, nicht notwendigerweise profitorientiert.

 

Trotz aller Kritik an der Strategie freuen wir uns auf die nächsten Jahre, in denen Sozialen Innovationen ein größeres und das ihnen gebührende Gewicht zukommt. Wir sind sicher, dass wir in der kommenden Zeit einen wahren Boom an sozialinnovativen Initiativen, Projekten und ja, auch gemeinwohlorientierten Unternehmen sehen werden. Auch die Arbeit der Forschung durch Erarbeitung von Wissen und Methodik wird zu einer erfolgreichen Etablierung von Sozialen Innovationen beitragen. Es bleibt spannend in Deutschland!